Schäubles Scheinargumente Teil IIViele Argumente des Bundesinnenministers können als falsch widerlegt werden. Die Fehler beruhen aber nicht darauf, dass Schäuble sich in der Sache irrt. Sie sind Teil einer kalkulierten politischen Strategie. Schäubles falsche Argumente sollen eine Wirklichkeit suggerieren, in der seine Vorstellungen von Sicherheitspolitik realistisch, dringend geboten und vernünftig erscheinen (Schäubles Scheinargumente Teil 1: Wie der Bundesinnenminister das Thema Bürgerrechte umgeht und was ihn wirklich interessiert).In seinem in der ZEIT abgedruckten
Vortrag vor der Justizpressekonferenz in Karlsruhe stellt Schäuble einige Behauptungen auf, die vor allem dazu dienen, seine Position als sachlich geboten und vernünftig darzustellen. Behauptet werden Tatsachen, die als Schlussfolgerung eine bestimmte Sicherheitspolitik geradezu erzwingen. Schäubles Politik erscheint dann als folgerichtig. Schäuble erweckt in seinem Vortrag den Eindruck, dass sich diese Folgerichtigkeit sich aus der Warte einer überparteilichen Vernunft ergebe. Die Kritik am Bundesinnenminister laufe so ins Leere. Seine Sicherheitspolitik lasse sich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, weder als Parteipolitik noch als Rationalisierung einer problematischen psychischen Disposition diskreditieren. Schäuble stellt sich somit dar als bescheidener Vollstrecker einer jedem aufgeklärten Menschen zugänglichen Vernunft.
Diese rhetorische Zielstellung wird erkennbar, wenn man die behaupteten Tatsachen prüft. Denn dann zeigt sich, dass sie sachlich zweifelhaft oder gar falsch sind. Diese Schwachstellen sind aber nicht zufällig. Sie sind so konstruiert, dass sie oberflächlich eine Suggestivkraft entfalten, die dazu verführt, Schäuble spontan recht zu geben. Im Folgenden möchte ich diese Konstruktion politisch nützlicher "Tatsachen" bei Schäuble vorführen, um zu zeigen, mit welchen Tricks der Innenminister hier arbeitet und welche Einwände dagegen helfen. Dabei gehe ich besonders auf zwei rhetorisch konstruierte "Tatsachen" in Schäubles Vortrag ein:
| Die Gewalt privater Personen stellt einen viel existenzielleren Einschnitt in die individuelle Freiheit dar als die durch den demokratischen Rechtsstaat vorgenommene Videoüberwachung. |
| Die Gewalt privater Personen sind eine stärkere Grundrechtsgefährdung als die Sicherheitsmaßnahmen des demokratischen Rechtsstaates. |
1. Ist Videoüberwachung harmloser als private Gewalt?
Die Konstruktion von "Tatsachen" wird am folgenden Beispiel sehr gut
erkennbar, wobei es vor allem auf den letzten Satz dieses Zitats
ankommt:
Auch die terroristische Bedrohung beeinträchtigt die Bewegungs- und Handlungsfreiheit der Bevölkerung unmittelbar. Wenn etwa in der Debatte über die Videoüberwachung öffentlicher Räume die gefühlte – und damit auch reale – Verkürzung der Freiheit geltend gemacht wird, so ist ebenso an die reale Verkürzung individueller Freiräume zu erinnern, die aus bedrohter persönlicher Sicherheit im öffentlichen Raum erwächst. Wer ist unfreier: der Bürger, der sich aufgrund einer Sorge vor Kriminalität zu bestimmten Zeiten nicht mehr an bestimmte Orte traut, oder derjenige, der
bestimmte Räume meidet, weil sie videoüberwacht sind? Hervorhebung von mir, M.L
1.1 Schäubles Botschaft: Gewalt macht unfreier als Kameras
Die Behauptung Schäubles lautet, dass Straftäter eine wesentlich stärkere Bedrohung der Freiheit des Einzelnen bewirken, als es staatliche Sicherheitsmaßnahmen je sein könnten. Im Grunde sei die von Straftätern ausgehende Gefahr sogar die einzig wirkliche. Ich will hier zunächst darlegen, wie dieses rhetorische Konstrukt dafür sorgen kann, dass es geglaubt wird.
Zunächst spricht einiges für Schäubles Behauptung. Man stelle sich einen Ort vor, an dem bekanntermaßen gewalttätige Jugendbanden das Sagen haben. Das Wissen um die durch diese Banden dargestellte Gefahr macht in der Tat unfrei. Von den Gewalttätern geht eine unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben aus. Diese Bedrohung macht Angst. Angst untergräbt das planende vernünftige Handeln. Sie sorgt einerseits für eine Emotionalisierung, so dass nicht mehr mit kühlem Kopf abgewogen werden kann.
Angst raubt dem Ängstlichen also die Souveränität. Andererseits ist sie ein Warnhinweis und macht auf das Risiko von Schmerzen und ernsthaften Verletzungen aufmerksam. Wer überleben will, muss dieser Gefahr aus dem Weg gehen. Die Möglichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, zwingt dem Bedrohten eine Handlung auf. Er muss diesen Ort meiden, ob er will oder nicht. Er kann weder die durch die Möglichkeit von Gewalttaten ausgelöste Angst noch die reale Präsenz von Gewalttätern ignorieren. Er muss den
Tatsachen ins Auge sehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
Folglich hat der Bedrohte gar keine Wahl, kann also gar nicht frei
entscheiden, was er tut.
Eine Videokamera, die einen öffentlichen Ort überwacht, ist dagegen
viel weniger bedrohlich. Die Kamera kann nicht verletzen und töten.
Deshalb muss kein Bürger Schmerzen und Verletzungen befürchten. Die
Videokamera kann man auch ignorieren und so tun, als wäre sie nicht da.
Diese Verdrängung des Beobachtetwerdens ist - anders als im Fall von Gewalttätern - folgenlos. Die Überwachungskamera ist zudem fest
installiert, so dass man leicht auf Abstand zu ihr gehen kann.
Gewalttäter können dagegen ihr Opfer verfolgen. Also ist die Flucht
geboten ist, bei der das Opfer schneller sein muss als seine Verfolger.
Diese Zudringlichkeit hat die Kamera nicht, sie bleibt an ihrem Platz.
Das erlaubt eine ruhige Gelassenheit angesichts der Kamera. Will man
sich aus ihrem Blickwinkel entfernen, so kann man dies in aller Ruhe
tun. Es bleibt Zeit, eine wohl abgewogene Entscheidung zu treffen.
1.2 Die Taktik des Ministers: Auslassen wichtiger Fakten und Zusammenhänge Selbst wenn man der Auffassung ist, dass Videoüberwachung grundsätzlich verwerflich ist, muss man bis hierher anerkennen, dass die Bedrohung und die Unfreiheit durch Gewalttäter existenzieller und einschneidender ist. Genau das ist die Botschaft, die Schäuble mit seinem Vergleich zwischen Gewalttaten und Videoüberwachungen vermitteln möchte. Aber der Minister bedient
sich hier im Grunde eines rhetorischen Tricks. Sein Vergleich ist nämlich keineswegs stimmig.
| Erster Einwand: Schäuble hat sich für diesen Vergleich eine äußerlich besehen relativ harmlose Variante staatlicher Sicherheitsmaßnahmen ausgesucht. Er ist also in seiner Darstellung recht selektiv. Der Innenminister unterlässt es, auch andere viel folgenreichere Varianten als die Videoüberwachung in den Vergleich einzubeziehen. Zu denken wäre dabei an Maßnahmen, die sehr stark in die Privatsphäre eingreifen oder die individuelle Freiheit beschneiden wie Hausdurchsuchungen, Wohnraumüberwachungen oder Vorbeugehaft. Dass der Minister dies unterlässt, ist schon etwas unredlich. Seine Behauptung, dass die Bedrohung durch Straftäter grundsätzlich größer sei als die durch den Staat, kann nämlich nur dann als bewiesen gelten, wenn er alle Fälle staatlicher Maßnahmen mit den Risiken durch Straftaten vergleicht. Diesen "Beweis" hat Schäuble hier nur ganz punktuell geführt, eine echte Prüfung seiner These hat er vermieden. Deshalb kann sie auch nicht überzeugen. Es ist (um eine Forderung von Peter Monnerjahn aufzugreifen: Zu kurz gedacht: Schäuble und seine Kritiker) auch nicht die Aufgabe der Schäublekritiker, diese Prüfung vorzunehmen, vielmehr ist der Minister selber in der Bringschuld, seine These zu plausibilisieren. |
| Zweiter Einwand: Schäuble berücksichtigt die tatsächlichen Auswirkungen der Videoüberwachung auf die individuelle Freiheit gar nicht. Die "Unterschlagung" dieser Folgen geschieht nicht aus Naivität. Sein Vergleich ist darum eigentlich ein Scheinargument mit bloß rhetorischer Funktion. |